Eine prickelnde Nacht, die nicht sehr prickelnd endet

Ferien verleihen Flügel. Ferien machen glücklich. Ferien sind Freiheit. Wahrscheinlich deshalb ergeben sich gerade in den Ferien oft nette, flüchtige Bekanntschaften.
Diese eine, die Marlies vor kurzem machte, war wunderschön. Eine Augenweide. Mit makellosem Gesicht, trainiertem Körper und auffallend hellen Zähne. Nur kam diese männliche Ferienbekanntschaft aus London City, sprach also dieses „British English“, welches Marlies nicht immer gleich auf Anhieb versteht.

Zum Glück ist da die laute Musik in der Bar, auf die sie das ständige „Sorry, I didn’t understand“ abschieben kann. Und natürlich das Bier, welches sie vor einer Blamage rettet. Mit Bier ist Marlies schlagfertig, kontert in der Diskussion mit Hilfe dem Einsatz von Händen und Füssen.

Der nette Londoner erzählt anfangs vom Job als Fitnesstrainer und Surfer, sie von ihrer Arbeit. Dazu gibt es ein Lächeln hier, ein Prosten da. Die Stimmung passt. Und schon bald werden Tanzfläche und Tische wichtiger als der Berufsaustausch. Die beiden lassen sich von den Partybeats mitreissen und Marlies vergisst das anstrengende „British English“….bis zum nächsten Morgen.

Der Kopf erwacht langsam, Marlies geniesst die Wärme unter der Bettdecke von ihr und ihrem Mister Perfect. Tatsächlich hat sie ihr Eindruck am Vorabend nicht getäuscht. Dieser Typ sieht auch am Morgen nach einer wilden Partynacht noch wahnsinnig gut aus. Kräftig gebaut, ein Surferboy halt, braune Hände und weisse Zähne. Sein Aussehen scheint ihm wichtig zu sein. Und auch die Ordnung im Zimmer. Alles ist aufgeräumt, die Kleider liegen feinsäuberlich zusammengefaltet auf dem Stuhl. Von einem Surferboy, der in einem Surfcamp ein Einzelzimmer besetzt, hätte Marlies mehr Unordnung erwartet. Sein Zimmer ist nur ungefähr zehn Schritte von Marlies’s Zimmer entfernt. Dort sind jetzt nur zwei von drei Betten besetzt. Ihre Freundinnen teilen sich ihr Zimmer ohne sie.

Nach einer ersten Aufwachphase und diesen paar Gedanken, nickt Marlies langsam wieder ein, bis sie ein wenig später ein merkwürdiges Geräusch auf dem Korridor erneut aufwecken lässt. Marlies stellt fest, dass Herr London-zimmernachbar nicht mehr neben ihr liegt. Stattdessen gibt er auf dem Flur Stöhngeräusche der ungewohnten Art von sich. Marlies nimmt an, dass ihm sein brummender Kopf den Schlaf geraubt hat.
„Er wird sich über seinen zügigen Durst vom Vorabend ärgern und nun den Magen mit Wasser vollpumpen. Der Kater lässt grüssen“, denkt sie.
Ihre Freundinnen nebenan denken anders. Wegen den Stöhngeräuschen sind sie ebenfalls aufgewacht, sind sich aber sicher, dass sich Marlies und Surferboy zusammen amüsieren.
„Die Stöhngeräusche deuteten daraufhin“, war später ihr Einwand, warum sie nicht aus ihren Betten schlüpften, um nach dem Rechten zu sehen.
Aber von „amüsieren“ kann nicht die Rede sein. Und hätten sie alle drei gewusst, was wirklich auf dem Korridor passierte, wären sie ganz sicher aus ihren Betten gehüpft.

Plötzlich kommt Mister London zurück ins Zimmer, legt sich unter die warme Decke, sichtlich erhitzt und aufgewühlt. Marlies merkt sofort, dass ihn etwas belastet. Er atmet schwer. Sie will wissen, wie es um den surrenden Kopf steht, ob sie helfen kann. „Nun geht das wieder los mit diesem British English! Was antworte ich bloss, wenn ich ihn nicht verstehe?“ macht sie sich Sorgen. Doch so lange dauert auch die zweite „British English“ Konversation nicht an. Mister Surferboy hat nämlich Mühe beim Sprechen. Kein Wunder: Er sei in der Küche gestürzt und habe sich beide Vorderzähne herausgeschlagen, erklärt er ihr. Seine Lippe blutet.
Ach herrje, der Arme.
Die schönen, weissen, strahlenden Zähne sind futsch. Und die Küsse mit ihm nun auch. Denn er sagt lispelnd zu ihr: „no more kisses today“. Und diesen Satz versteht Marlies einwandfrei, sogar in „British English“.

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